Das Verhältnis Franz Kafkas zu seinem Vater
Prolog: Der "Brief an den Vater" und seine psychologischen Deuter
Jeder Leser, der sich mit dem Verhältnis Franz Kafkas zu seinem Vater beschäftigt, wird zwangsläufig zum Interpreten eines überragenden Dokuments, das der Schriftsteller 1919 verfasst hat und den eigentlichen Adressaten nie erreichte: Der "Brief an den Vater". Mit diesem Werk und einigen Briefstellen ist man aber gleichzeitig auf ein Bild angewiesen, das Kafka sehr bewußt gestaltet hat und leider kein Gegengewicht erfuhr, das von anderer Seite dieses Verhältnis in dieser Ausführlichkeit beschrieben und durchleuchtet hätte. Der erste Herausgeber dieses Werkes, der Nachlassverwalter und enge Freund Max Brod, war auch gleichzeitig sein erster Kritiker, sah er doch in dem Brief Übertreibungen, die sich keineswegs mit dem Bild deckten, dass man im persönlichen Umgang mit dem Dichter, aber auch in seinem Verhältnis zum Vater gewinnen konnte. Leider übersah Brod, erklärbar durch seine persönliche Nähe zum Autor, dass diese Übertreibungen ein bewußtes Stilmittel Kafkas sind, die sein Werk insgesamt, aber auch diesen Brief im besonderen kennzeichnen. So sind diese Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend mit Motiven und Bildern durchsetzt, die man auch im Werk Kafkas allenthalben vorfindet: Tiermotive ("ich winselte"), nicht hinterfragbare Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, das Gefühl der Ausgeschlossenheit und Einsamkeit. Thomas Anz hat das sehr prägnant zusammengefasst:

Er hat seine Erinnerungen in deutlichen Analogien zu seinem Werk aufgeschrieben. Die Kindheitserinnerungen sind eine literarische Konstruktion erinnerter Wirklichkeit, die gleichen Mustern der Veranschaulichung folgt wie `Die Verwandlung´, `Der Prozeß´ oder `Das Schloß´.
Deswegen erscheinen auch alle kurzatmigen psychologischen Deutungen des Verhältnisses der beiden zueinander als sehr problematisch. Denn jede von der Psychoanalyse inspirierte Analyse eines Werkes, das selber sehr bewusst mit der Klaviatur der Psychologie arbeitet, trägt wohl letzten Endes nur Eulen nach Athen. Dieser Brief ist von seinem Aufbau her und in seiner formalen Gestaltung keineswegs nebenher verfasst worden und mehr als der spontane Ausdruck einer Verzweiflung, auch wenn der Anlass, die brüske Ablehnung der Verlobung Kafkas mit Julie Wohryzeck durch den Vater, etwas anderes vermuten lassen. Auch war Kafka keineswegs ein naiver Autor, der darauf wartet von jedem (Hobby-)Psychologen "entdeckt" zu werden. Ganz im Gegenteil. Man sollte sich bei der Lektüre des Briefes immer das bekannte Wort Elias Canettis als Mahnung vor Augen halten:
Unter allen Dichtern ist Kafka der größte Experte der Macht. Er hat sie in jedem ihrer Aspekte erlebt und gestaltet.
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"Dieses Mütterchen hat Krallen" - Auf den Spuren Franz Kafkas in Prag