Wilhelm Raabe: "Holunderblüte"
Sicherlich eine der schönsten Erzählungen zum Prager Judenfriedhof hat einer der bedeutendsten Vertreter des poetischen Realismus, Wilhelm Raabe (1831-1910), geschrieben. Raabe, der während einer langen Reise zwischen April und Juli 1859 auch Aufenthalt in Prag machte, verarbeitete diese Erlebnisse in der Geschichte von „Der Holunderblüte“ aus dem Jahre 1861. Aus der Erinnerungsperspektive eines älteren Arztes wird eine Jugendgeschichte erzählt, die sich 40 Jahre zuvor zugetragen hat.
Ein junger Student, der bislang ein rechtes Lotterleben in Wien führte, fährt nach Prag, das seines medizinischen Lehrstuhls wegen bekannt war, um seine Studien ernsthaft fortzusetzen. Kaum in Prag angekommen, möchte er dem „berühmten Kirchhof der Juden“ einen Besuch abstatten. Auf dem Weg dorthin begegnet er dem jungen Mädchen Jemima, die, nach dem Weg gefragt, den Neuankömmling in die Irre führt. Nach einigem Herumirren durch „das schmutzigste Labyrinth, welches die menschliche Phantasie sich vorstellen kann“ erreicht er schließlich die Pforte des Friedhofs:
„Ich sah die unzähligen aneinandergeschichteten Steintafeln und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen Äste drumschlingen und drüberbreiten. Ich wandelte in den engen Gängen und sah die Krüge von Levi, die Hände Aarons und die Tauben Israels. Zum Zeichen meiner Achtung legte ich, wie die anderen, ein Steinchen auf das Grab des Hohen Rabbi Löw bar Bezalel. Dann saß ich nieder auf einem schwarzen Steine aus dem vierzehntem Jahrhundert, und der Schauer des Ortes kam in vollstem Maße über mich.
Seit tausend Jahren hatten sie hier die Toten des Volkes Gottes zusammengedrängt, wie sie die Lebenden eingeschloßen hatten in die engen Mauern des Ghetto. Die Sonne schien wohl, und es war Frühling, und von Zeit zu Zeit bewegte ein frischer Windhauch die Holunderzweige und -blüten, daß sie leise über den Gräbern rauschten und die Luft mit süßem Duft füllten; aber das Atmen wurde mir doch immer schwerer und sie nennen diesen Ort Beth-Chaim, das Haus des Lebens?!
Aus dem schwarzen, feuchten, modrigen Boden, der so viele arggeplagte, mißhandelte, verachtete, angstgeschlagene Generationen lebendiger Wesen verschlungen hatte, in welchem Leben auf Leben versunken war wie in einem grundlosen, gefräßigen Sumpf, - aus diesem Boden stieg ein Hauch der Verwesung auf, erstickender als von einer unbeerdigten Walstatt, gespenstisch genug, um allen Sonnenglanz und allen Frühlingshauch und allen Blütenduft zunichte zu machen.“
Plötzlich taucht auch das jüdische Mädchen Jemima Löw wieder auf, das im Friedhof auf einem Holunderbusch sitzt und den fremden Besucher beobachtete. Schon bald schließen sie Freundschaft. Immer mehr erliegt der Student der Faszination des geheimnisvollen Friedhofs, in dessen Geheimnisse und Geschichte er vom Pförtner, einem Verwandten des Mädchens, aber auch von Jemima selbst, die ihm mit der Zeit vertrauter wird, geduldig eingeführt wird. So vergeht der Sommer, bis Jemima an einem Tage mitten im Herbst auf den Grabstein der Tänzerin Mahalath deutet, die hier 1780 beerdigt wurde, und dem Studenten bekennt, dass sie das sei. Auf die ungläubige Nachfrage was es damit auf sich habe, antwortet sie dem Erschrockenem: „Sie hatte ein krankes Herz, und es zersprang.“ Sie gesteht ihm ihre Krankheit und spricht davon, nicht mehr lange zu leben. Die Ankündigung ihres eigenen Todes für das nächste Frühjahr lässt Hermann seine tiefe Liebe zu dem Mädchen spüren. Aufgewühlt sucht er kurz darauf den alten Pförtner auf, der gerade am Grabe des alten Rabbi Löw weilte und sich nicht kümmerte um den losbrechenden Sturm um ihn herum:
"Wer diesen Ort nicht in solcher Stunde gesehen hat, der kennt nichts von ihm. Es gibt keinen andern Gottesacker in der ganzen Welt, wo man, wenn der Himmel schwarz wird 'wie ein härener Sack', wenn der Blitz zuckt und der Donner kracht, mit solchem Zittern das Haupt beugt und den Anfang des Jüngsten Gerichtes erwartet."
Der Alte hört sich die ganze Geschichte des Studenten an und rät zur Abreise, da er glaubt, dass dies besser für die beiden jungen Menschen sei. Schweren Herzens befolgt Hermann diesen Rat und verbringt den Winter in Berlin. Er vertieft sich in seine Studien und erst im kommenden Frühjahr kehrt durch das Lachen eines Mädchens seine Erinnerung an Prag, den Judenfriedhof und vor allem an Jemima zurück. Er spürt, dass er nach Prag zurückfahren muss. Dort angekommen, erfährt er die schreckliche Nachricht vom Tod seiner geliebten Jemima, die acht Tage zuvor verstorben ist.