Die Golem-Sage
Prolog
Die bekannte Sage des Golems entspringt wohl dem kollektiven Wunsch der über die Jahrhunderte verfolgten Juden nach einer starken und schützenden Figur, die einem in der Bedrängung beisteht und vor Verdächtigungen und Verfolgung bewahrt. Wie tief diese Figur im kollektiven Bewusstsein zumindest der Böhmischen Juden verankert war, bewies nicht zuletzt Egon-Erwin Kisch, der sich selber ausgiebig mit der Figur des Golems beschäftigte. In einem Schreiben von 1938 fasst er noch einmal sehr schön den psychischen Hintergrund dieser alten "Frankenstein-Saga" zusammen:
"Du weißt doch, dass ich ein direkter Nachkomme des weisen Rabbi Löw bin, der aus Lehm den Golem modelliert hat und ihm, wenn den Juden Unrecht droht, befahl: Erhebe Dich und gehe! So einen Golem würden wir brauchen, wenn die Nazis auf uns losgehen werden. Ich würde ihm auch befehlen: Erhebe Dich und geh, die Feinde rücken auf mein Prag zu!"
aus: "Böhmen am Meer", S. 125
Ursprung und Entstehung der Golem-Sage
Die Ursprünge der Sage reichen bis in das 12. Jahrhundert zurück, als in Worms (der vermeintlichen Geburtsstadt von Rabbi Löw) ein hebräischer Kommentar zu dem mystischen Traktat "Sefer Jezira" erschien. Schon hier ist von einem magischen Ritual die Rede, das aus Buchstaben und Zahlen bestand, um den Golem zum Leben zu erwecken. Luther übrigens übersetzte das Wort Golem (der im Psalm CXXXIX, 16 auftaucht) mit "unbereitet".
Die Prager Golem-Sage ist neueren Ursprungs. Ein wenig verblüffend ist die Tatsache, dass zu Zeiten von Rabbi Löw, dem vermeintlichen Erschaffer der Lehmfigur, noch niemand über einen Golem sprach. Erste Andeutungen über magische Fähigkeiten von Rabbi Löw tauchten 1725 auf, als im Zuge der Restaurierung des Grabes seine Nachfahren einen Abriss zu Leben und Werk veröffentlichten. Doch auch hier wird der Golem noch mit keiner Silbe erwähnt. Erst 1838 veröffentlichte der deutsch-tschechische Journalist Franz Klutschak in der Zeitschrift "Panorama des Universums" einige Geschichten über den alten Judenfriedhof und Rabbi Löw. Dabei trug eine Erzählung den Namen "Der Golam und Rabbi Löw". Einem breiteren Publikum bekannt aber wurde die Sage erst durch eine Geschichtensammlung, die den Namen "Sippurim" trug und erstmals in deutscher Sprache verfasst wurde. Der Herausgeber, Wolf Pascheles, erkannte, dass es ein wachsendes jüdisches Publikum für Bücher gab, die in literarischem Deutsch und deutscher Schrift verfasst werden. Die "Sippurim" waren so erfolgreich, dass es noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Nachdrucke gab.
Doch worum geht es eigentlich in der Golem-Sage?
Rabbi Löw, oberster Richter der Gemeinde von Prag, bedrückte die unablässig von christlichen Priestern vorgebrachte Verleumdung des Blutgebrauchs so sehr, dass er den Beistand des Himmels erflehte. In einem nächtlichen Traum bekam er folgendes aufgetragen:
"Mache ein Menschenbild aus Ton, und Du wirst der Böswilligen Absicht zerstören."
So machte er sich mit einem Schüler und seinem Diener auf den Weg zu einem Fluss außerhalb der Stadt, an dessen Ufer eine Lehmgrube lag. Hier kneteten die drei Männer aus der formlosen Masse eine menschliche Figur, die durch das jeweils siebenmalige Umschreiten des Schülers und des Dieners, sowie dem Hersagen von vorgesetzten Formeln zum Leben erweckt wurde. Der Golem war von sehr großer Statur und besaß ungeheure Kräfte. Nach ihrer Heimkehr lebte der Golem zumeist reglos zurückgezogen in einem Winkel der Stube des Rabbis. Nur wenn dieser einen Auftrag an ihn hatte und der Rabbi ihm ein mit Zauberformeln beschriebenes Pergament in den Mund legte, erwachte der Riese zum Leben. Auch bekam er ein Amulett aus Hirschhaut um den Hals gehängt, das ihn für die anderen unsichtbar machte, während er aber alles sah.
Rabbi Löw setzte den Golem vor allem dazu ein die Blutbeschuldigung zu bekämpfen. Sobald das Passahfest nahte, patrouillierte der Golem während der Nächte durch die dunklen Strassen der Judenstadt und hielt jeden auf, der eine Last auf dem Rücken trug. War darunter ein totes Kind, das vor eine Synagoge gelegt werden sollte, band er den Übeltäter und die Leiche mit einem Strick zusammen und brachte sie zum Stadthaus, wo er sie der Obrigkeit übergab.
Nachdem es wieder ruhig auf den Strassen von Prag wurde und ein Gesetz die Blutbeschuldigung nicht mehr unter Anklage stellte, da sie grundlos war, beschloss Rabbi Löw den Golem wieder den Elementen zu übergeben. Wieder rief er seine Schüler um sich und dieses Mal vollbrachten sie die Rituale seiner Erweckung in umgekehrter Reihenfolge. Danach war der Golem wieder leblos. Man wickelte ihn in zwei alte Gebetbücher und verwahrte ihn in der Dachstube des Rabbi.
Für Rabbi Löw hat der Golem Anteil am ewigen Leben, weil er so oft Israel vor schwerer Not bewahrt hat und wenn er dereinst mit den anderen Toten zusammen wieder zum Leben erwachen sollte, wird er in einer ganz anderen Gestalt fortleben.
Die Golem-Sage in Film und Literatur
Mit dem Abriss der alten Judenstadt etablierte sich eine Literatur in Prag, die in ihren geheimen Winkeln und Gassen nach dem Geheimnisvollen und Mystischem fahndete und ihren Mythos als geheimnisumwobene Stadt schuf. Vor allem nach den Filmen "Der Student von Prag" und Paul Wegeners "Der Golem" aus dem Jahre 1914 erschienen eine ganze Reihe mystisch-okkulter Bücher, deren Autoren Prag (und vor allem das untergegangene Judenviertel) gerne als dunkle Hintergrundkulisse in Anspruch nahmen. In dem Maße wie Prag zu einer normalen europäischen Metropole heranwuchs, suchte man in der Literatur den umgekehrten Weg: die "Wiederverzauberung der entzauberten, modernen Welt" (Walter Schmitz u. a.: Böhmen am Meer, S. 121)
Das bekannteste und auch erfolgreichste Buch dieses Genres war sicherlich Gustav Meyrinks Roman "Der Golem", das nur ein Jahr später als der Film erschien und "ein europäischer Bestseller" wurde. Doch im Gegensatz zur eigentlichen Sage, oszilliert die Figur des Golems in dieser Geschichte nur am Rande der äußeren Handlung, in deren Mittelpunkt die Reise nach innen steht, die Begegnung mit sich selbst.
Zum Inhalt
Es ist die Zeit um die Jahrhundertwende. Athanasius Pernath, der seit Jahren als Gemmenschneider in der vom Abriss bedrohten Prager Judenstadt lebt, bekommt eines Tages Besuch von einem seltsamen Gast, der ihm ein Buch zur Restaurierung anvertraut. Das Initial "I" aus dem Kapitel "Ibbur" war am Rande verletzt und bedurfte der Ausbesserung. Ibbur, das übersetzt "Seelenschwängerung" heißt, ist auch das Initial für Pernath, sich nun auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit zu machen. Während eines Schwächeanfalls belauscht er Gespräche seiner Freunde und muss erfahren, dass er geisteskrank war. Pernath, der bislang zurückgezogen und ohne eigene Vergangenheit lebte, gewinnt nun, in einem schmerzlichen Prozess, in deren Verlauf er auch in eine dunkle Kriminalgeschichte hineingezogen wird, Stück um Stück diese Vergangenheit zurück. So gelangt er eines Tages, auf der Suche nach Briefen, die er vor den dunklen Machinationen des Trödelhändlers Aaron Wassertrum in Sicherheit bringen möchte, in das Atelier seines Nachbarn und gerät dort über eine Falltür in ein Labyrinth von dunklen Gängen und Treppen in das berühmte "Zimmer ohne Zugang" der Altschulgass, in "dem der gespenstische Golem jedesmal verschwand" . In einer Ecke des Zimmers findet er unter altem Gerümpel ein Tarockspiel, deren Trumpfkarte Pagat ein seltsames Eigenleben zu entwickeln scheint:
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"Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der da so eisig aus der Ecke herüberwehe, sagte es mir vor, schneller und schneller, mit pfeifendem Atem - es half nichts mehr: dort drüben der weißliche Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurück in die Finsternis. - Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halb wirklich - im Raum und doch außerhalb um mich herum und doch anderswo - tief im eigenen Herzen und wieder mitten im Zimmer - erwachten: Geräusche, wie wenn ein Zirkel fällt und mit der Spitze steckenbleibt!
Immer wieder: der weißliche Fleck --- der weißliche Fleck --! Eine Karte, eine erbärmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir ins Hirn hinein --- umsonst -- jetzt hat er sich dennoch Gestalt erzwungen - der Pagat -- und hockt in der Ecke und stiert herüber zu mir mit meinem eigenen Gesicht."
Hintergründe und Elemente des Romans
Im "Golem" überkreuzen sich die verschiedensten Stilelemente und Denkschulen, die Meyrink in eklektizistischer Manier in das Handlungsgefüge einwebt. Als spirituelle Vorbilder werden oft Paracelsus, die Kabbala, der Pali-Buddhismus oder auch Yogi-Vorstellungen genannt, wenn es gilt, den geistigen Hintergrund der Erzählung zu benennen . Die phantastischen Elemente des Romans bilden den Kontrast zu den naturalistischen Schilderungen, die auch einen wesentlichen Bestandteil der Handlung ausmachen. So spielt die Geschichte zur Zeit der Sanierung des Ghettos und an einer Stelle wird auch vom Einsturz der steinernen Brücke gesprochen, ein Vorgang der unschwer auf das Jahr 1890 zurückgeführt werden kann, als Teile der Karlsbrücke bei einem Unwetter einstürzten (siehe auch Zeittafel). Auch werden historische Straßennamen genannt und als ein weiteres Stilelement des Naturalismus lässt Meyrink einige Ghettobewohner Dialekt sprechen. Als Übersetzer von Charles Dickens fand Meyrink in dessen Werk sicherlich viele Anregungen für seine Milieuschilderungen. Manchmal glaubt man sich geradezu in das viktorianische London versetzt, wenn man manche Schilderungen aus dem Golem mit "Bleak House" vergleicht, einem Roman den Meyrink auch übersetzt hat.
Doch darüber hinaus lernt man in diesem Buch auch den Satiriker Meyrink kennen, der in Prag schon seit Jahren für seine Glossen und "bösen" Erzählungen bekannt war. Man findet im Golem glänzende Schilderungen von Polizei und Justiz, deren Verkommenheit Meyrink oft aufs Korn nahm. Vielleicht ist es ja gerade diese Vermischung von Stilelementen, wenn nicht gar Stilbrüchen, die den großen Erfolg des Romans bis heute ausmachen.