Milena Jesenska
Der Kampf gegen den Vater
Milena Jesenska wurde am 10. August 1896 in Prag geboren. Die Familie gehörte dem gehobenen Bürgertum an, Vater Jan war Professor für Zahnmedizin an der Prager Karls-Universität und Inhaber einer Zahnarztpraxis. Milenas Jugend ist überschattet von einer gleichzeitig schweren wie chronischen Krankheit der Mutter, die im Jahre 1913 auch daran stirbt. Zudem starb ein Brüderchen schon nach wenigen Monaten. Auf Anweisung des Vaters, der selber kaum zu Hause war, musste sich Milena Jahre lang um die kranke Mutter daheim kümmern.
In den Jahren 1907 bis 1915 besucht Milena das Mädchengymnasium "Minerva", das seinerzeit eine sehr fortschrittliche Institution für tschechischsprachige Schülerinnen war und kein Pendant im deutschsprachigen Bereich kannte. Danach begann sie ein Medizinstudium, das sie aber nach nur zwei Semestern abbrach. In den Jahren nach dem Tod der Mutter steigerte sich das distanzierte und schwierige Verhältnis zum Vater zur regelrechten Rebellion gegenüber seinen Normen und Ansprüchen. Milena, die schon früh musische Interessen entwickelte, tauchte in das Prager Boheme-Leben ein, machte Schulden und nahm auch Morphium ein. Während diese ganzen Eskapaden, zu der auch eine Abtreibung gehörte, noch mit Vaters Geldbörse geregelt werden konnten, eskalierte der Streit der beiden als Milena im Jahre 1916 den deutschsprachigen jüdischen Bohemien Ernst Pollak, einen "Literaten ohne Werk" (Hartmut Binder), kennenlernte und bald darauf heiraten wollte.
Der Vater, ein nationalbewusster Tscheche, war entsetzt und versuchte mit allen Mitteln diese Beziehung zu unterbinden. Er verbot der noch nicht volljährigen Milena die Hochzeit und als Milena sich weigerte die Beziehung aufzugeben, griff er zu noch drastischeren Mitteln: unter Mithilfe eines befreundeten Arztes, der eine entsprechende Diagnose stellte, ließ der Vater seine Tochter in eine psychiatrische Anstalt einsperren, die in einem Vorort von Prag lag. Bis zu ihrer Volljährigkeit, also rund neun Monate, war Milena in dieser Anstalt untergebracht. Diese letztendlich hilflose Aktion nutzte dem Vater gar nichts. Nach ihrer Entlassung heiratete Milena Jesenska Ernst Pollak am 18. März 1918 und gemeinsam zog das frisch vermählte Ehepaar ein paar Tage später nach Wien.
Die Jahre in Wien, aber auch die Ehe mit Ernst Pollak gestalteten sich schwierig. Während Pollak eine Anstellung in einer Bank als Devisenhändler fand und ansonsten wieder sein aus Prag gewohntes Boheme-Leben aufnahm (inklusive diverser Liebesverhältnisse), überließ er Milena mehr oder weniger sich selber. Sie musste sogar für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen, da ihr Ehemann seine Einkünfte nicht mir ihr teilen wollte. Schnell wuchsen wieder ihre Schulden und da ein Hilfeersuchen an den Vater nicht mehr in Frage kam, verdingte sie sich in ihrer Not sogar als Kofferträgerin am Bahnhof und arbeitete zeitweise als Sprachlehrerin. Ende 1919 bekam sie dann die Chance Reportagen für die Prager Zeitschrift "Tribuna" zu veröffentlichen. Es folgten weitere Reportagen und Berichte, die ihren Ruf als ausgezeichnete Journalistin begründeten.
Milena, das lebendige Feuer
Kafka und Milena lernten sich im Herbst 1919 in Prag kennen. Sie bat ihn darum einige Erzählungen von ihm ins Tschechische übersetzen zu dürfen, was sie nach seiner Zustimmung in der Folgezeit auch tat. Im April 1920 - Kafka war gerade in Meran zur Kur - setzte ein Briefwechsel zwischen den beiden ein, der schnell intensiv wurde. Vergleicht man aber die Briefe Kafkas an Milena mit denen an Felice Bauer, dann fällt auf wie viel offener, spontaner, aber auch kunstvoller Kafka hier schreibt. Mit Milena hatte Kafka auch das erste Mal eine Gesprächspartnerin, deren Jugend zwar ungleich dramatischer verlief, aber im Wesentlichen den gleichen Vater-Kind-Konflikt zeigte wie im Hause Kafka. Noch wichtiger war aber, dass er mit Milena eine Frau gefunden hatte, die ihn und seine literarischen Arbeiten wirklich verstand. So entwickelte sich aus dem Brief- auch ein Liebesverhältnis. Es war aber nicht von Dauer, weil Milena auf der einen Seite noch nicht bereit war ihre Ehe mit Ernst Pollak aufzugeben und der gesundheitlich schon sehr angeschlagene Kafka letztlich vor der starken und temperamentvollen Persönlichkeit Milenas zurückschreckte. Kafka bekannte die Aussichtslosigkeit dieser Beziehung schon früh in einem Brief an Max Brod vom Mai 1920:
"Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe, ein Feuer übrigens, das trotz allem nur für ihn (= Ernst Pollak) brennt."
Man schrieb sich nicht nur, sondern es kam auch zu persönlichen Begegnungen. Dennoch wurde der Kontakt im darauffolgenden Jahre 1921 geringer, verebbte aber nie ganz. Ein Beweis für das tiefe Vertrauen Kafkas in Milena, das auch nach Beendigung der Beziehung weiter bestand, ist die Aushändigung seiner Tagebücher im Oktober 1921. Ein letzter Besuch Milenas bei Kafka erfolgte im Mai 1922 und den letzten erhaltenen Brief an Milena verfasste er am 25.12.1923, also etwas mehr als ein halbes Jahr vor seinem Tod.
Rückkehr nach Prag
Im Jahre 1924 kam es zur Trennung von Ernst Pollak und zum Abschied aus Wien. Nachdem sie darauf hin für ein Jahr bei einer Freundin in Buchholz bei Dresden lebte, kehrte sie 1926 endgültig nach Prag zurück. Dort schloss sie sich der Künstlergruppe Devětsil an und etablierte sich endgültig als Journalistin. In der Zeit lernt sie Jaromír Krejcar (1895–1949) kennen, einen avantgardistischen Architekten, den sie 1927 heiratete. Im Jahr darauf kommt ihre Tochter Honza zur Welt. Doch kurze Zeit später bekommt Milena große gesundheitliche Probleme: eine schwerwiegende Gelenkentzündung fesselt sie auf Monate ans Bett. Zurück bleibt eine Versteifung des rechten Knies. Zudem verliert sie ihren Arbeitsplatz und wird aufgrund der großen Schmerzen morphiumsüchtig. In diesen Jahren erfolgt auch eine Hinwendung zum Kommunismus, der zum Parteieintritt in die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei führt. Doch eine parteikonforme Linie ist nicht ihre Sache und so wird sie schon 1936 wegen kritischer Äußerungen aus der Partei ausgeschlossen. Auch die Ehe mit ihrem zweiten Mann Jaromír Krejcar ist nicht von langer Dauer und wird 1934 wieder geschieden.
Die folgenden Jahre sind von ihrem Kampf gegen die Sucht geprägt, der letztendlich doch erfolgreich ist. In den Jahren vor der Besetzung der Tschechoslowakei schreibt sie viele sozialkritische Reportagen für die liberal-demokratischen Kulturzeitschrift Přítomnost. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in den verbliebenen Rest der Tschechoslowakei im Jahre 1939 betätigt sie sich als Fluchthelferin und wird am 11. November 1939 von der Gestapo verhaftet. Obwohl es aus Mangel an Beweisen zu einem Freispruch vor Gericht kommt, wird sie in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Dort stirbt Milena Jesenska am 17. Mai 1944 an den Folgen einer Nierenoperation.